"Dem sehr verehrten Fräulein Christl Kirsch"

Morgens auf die Friedrichsbrücke, abends in die Scala!

Morgens auf die Friedrichsbrücke, abends in die Scala!  Mit nur wenigen Zeilen an das "Cousinchen" durchmisst der Lebemann das Berliner Treiben um 1926. Postkarte nicht sammelnswert, of course!

Was?

Neue Friedrichsbrücke

Wo?

Burgstraße 19, 10178 Berlin

Wann?

erbaut 1893, 

Postkarte von 1926



Johannes, der seinen Namen in familiär-obersorbischer Manier auf "Janca" abkürzt, ist ein Kosmopolit.  Berlin, Holland, Budapest, Wien - er bereist Europa in schnellem Takt, regel- und routinemäßig, doch weshalb? 

Für einen Handelsvertreter ist das Budapester 5*Hotel Royal, in dem er eine Antwort vom lieben Cousinchen erwartet, etwas zu mondän. Dennoch betont er, dass seine Aufenthalte geschäftlicher Natur seien und, zum Beispiel in Wien, auch über die üblichen 2-3 Tage hinausgehen können. In jedem Fall ist Janca jung und betont modern, denn er verwendet Druckschrift anstelle von Kurrent. 

Kein Wunder also, dass ihm das Programm der "Scala" gut gefallen hat: In dieser weit über die Grenzen Berlins berühmten Varietébühne gehörten die "Scala-Girls", eine äußerst spärlich bekleidete weibliche Tanztruppe, zum hauseigenen Kassenschlager. 

Nicht interessant genug erscheint dem Lebemann wohl dagegen der etwas gediegenere Teil der Berliner Kultur: Sein Urteil über die "nichtssagend schöne Karte" fällt abschätzig aus, über das Motiv selbst verliert er kein Wort. 

Zu sehen ist die "Neue Friedrichsbrücke" von 1893, so benannt, da sie bereits den dritten vollständigen Neubau seit der ersten Errichtung der Brücke im Jahr 1703 darstellt. Hätte Janca ein wenig genauer hingeschaut, wären ihm bestimmt die kupfernen Leuchtenträger auf Steinsockeln nach Modellen von Carl Begas und Carl Piper aufgefallen, die Allegorien auf die vier Erdteile Europa, Asien, Afrika und Amerika vorstellen sollen. Schade aber auch. Vielleicht hat sich die Base mehr darüber gefreut? 

 

"Liebe Base!

Gestern Mitternacht hier angelangt, mit Sitzungen voll beschäftigt, abends erstes Varieté Skala besucht, schönes Programm. Ich freue mich schon sehr auf nächste Wiener Fahrt, um meine liebe Tante & mein l.[iebes] Bäschen wiederzusehen. Ich will, da interessiert, natürlich herrlich gerne auch über letzte Hollandreise erzählen, ob zwar sie weniger angenehm gewesen, als die vorletzte. Ich jagte nur so durch das Land, allein - alleine - Reiseerlebnisse der verschiedensten Art, doch nur wenig interessantes - auch war ich meist so nachrichtenlos & Du, liebe Base, begreifst gewiss, wie gross meine Freude ist, unterwegs von daheim & lieben Freunden in den Hotels, die man regelmässig bewohnt, Nachrichten vorzufinden; sie stimmen den Empfänger ganz festlich. Am und nach dem 16. Oktober beabsichtige ich in Budapest, Hotel Royal zu sein, halte mich dort 2-3 Tage auf, fahre dann nach Somoskö u. von da aber Budapest ohne Aufenthalt nach Wien auf 1-2 Tage. Diesmal dürfte ich in Wien Hotelwohnung nehmen, um Schwägerin nicht zu stören, weil wahrscheinlich länger geschäftlich in Anspruch genommen sein dürfte - Dich, liebes Cousinchen klinge & suche ich im Amt auf & wir beraten dann noch über meinen Besuch bei der l. [ieben] Tante Christine - Schade, das Deine l. Tante noch nicht hier ist u. ich auch ihre Adresse nicht kenne?? Du, l. Christl & Tante sind mir doch nicht böse, wenn ich wieder mal eine kleine Abwechslung in Euer stilles trautes Heim und schönes Leben bringe? Verzeih diese nichtssagend schöne Karte, die ja nicht sammelnswert. Ich will trachten, noch hübschere nachzusenden. Hand Kuss Tantchen, Dir in alter treuer Freundschaft herzlichst Dein Janca"

 


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